Es heißt, dass der Canal Grande wie ein Fragezeichen durch die Stadt fließt, um die Besucher jederzeit zu fragen „Wie lang wird es Venedig so noch geben?“ Der Boden, aus dem Venedigs Inseln bestehen, ist ganz weich und morastig, und ähnlich wie in Amsterdam stehen die Gebäude nur, weil unter ihren Fundamenten Abertausende von Holzpfählen in den Boden gerieben wurden, um irgendeine Art festen Grund zu schaffen.
Straßen gibt es keine in Venedigs Altstadt, denn auch die würden eher früher als später absaufen. Stattdessen sind alle Verkehrswege Kanäle und enge Fußgängerwege – selbst Motorroller und
Fahrräder sind in der Altstadt verboten. Das ist auch ganz gut so, denn die Fußgänger verstopfen die Gassen alleine schon genug. Kein Wunder bei 20 Millionen Touristen, die sich jährlich hier
durchschieben.
Besonders witzig wird es beim sogenannten Acqua Alta, dem Hochwasser, das immer ganz plötzlich auftritt, wenn man es am wenigsten erwartet. Der Markusplatz ist der niedrigste Punkt der Altstadt
und liegt so nah am Ufer des Giudecca-Kanals, dass es nur einmal schwappen muss, und schon steht alles unter Wasser. Die Venezianer sind natürlich darauf vorbereitet und es dauert keine zwei
Stunden bis mobile Stege aufgebaut sind, die alle Besucher trockenen Fußes quer über den Piazza San Marco bringen. Innerhalb weniger Minuten sprießen an allen Ecken Stände aus dem Boden, die
knallbunte Regengamaschen verkaufen und danach flitzen alle mit bunt gummierten Füßen durch die Gegend.
Das erste richtig unerwartete Hochwasser der Saison kam natürlich genau als unsere Gäste für die Transreise nach Kreta an Bord kamen. Statt Ausflugsbussen gibt es sowieso in Venedig Boote, dummerweise hing unser Pontonanleger aber einen halben Meter unter Wasser und wir konnten niemanden in die Stadt bringen. Blöd, wo das doch für die meisten unserer Gäste ein großes Highlight der Reise war. Das spektakuläre Auslaufen vorbei am Dogenpalast fiel dann genauso buchstäblich ins Wasser wie alle Ausflüge: Die Hafenbehörde sperrte den Hafen für alle Ein- und Ausfahrten. Mit drei anderen Kreuzfahrtschiffen mussten wir also ausharren und die Ansage des Kapitäns war „bis auf weiteres“. Unerwartet über Nacht im Hafen zu bleiben ist eigentlich immer was feines, denn plötzlich kann man seinen Feierabend tatsächlich außerhalb der Stahlwände verbringen, die uns sonst immer nachts umgeben. Gedanklich war der Mozzarella auf unserer venezianischen Pizza schon halb im Holzofen geschmolzen, da vernichtete Chef Ingo mit drei kleinen Worten die feierabendlichen Pläne: „Schaut mal raus“. Der Blick über die Reling verriet: trockenen Fußes auch nur aus dem Hafen zu kommen, konnten wir vergessen, denn unsere Pier glich einer einzigen großen Pfütze, nachdem das Nachbarshafenbecken über die Kaimauer getreten war.
Wie gut, dass ich wenigstens am ersten (noch trockenen) Tag in Venedig einen kleinen Ausflug mitmachen konnte und mit einem höchst unitalienisch aussehenden blonden Gondoliere durch die Kanäle
der Stadt schipperte. Italienisch muss er aber doch gewesen sein, denn Gondoliere darf sich nur schimpfen, wer in Venedig geboren wurde und eine gewisse Zeit seines Lebens hier verbracht hat.
Meistens sind es Männer, die die Gondeln führen, aber unter den 423 Gondolieren soll es tatsächlich ganze zwei weibliche Gondolierinnen geben. Entsprechend gibt es auch nur 423 Gondeln in
Venedig, denn jedem gehört seine eigene, auch wenn alle praktisch gleich aussehen. Schwarz müssen sie alle sein, genau 10,85 Meter lang und 1,42 Meter breit und nicht schwerer als eine halbe
Tonne. Heute werden Gondeln noch immer so gebaut, wie sie schon immer gebaut wurden und nur wer die traditionell verbauten sieben verschiedenen Holzarten nutzt, hat eine wahre Gondel
gebaut.
Alle Kanäle in Venedig sind wenigstens so breit, dass zwei Gondeln einander passieren können ohne aneinander zu stoßen. Sollten sie es doch mal tun, ist es auch nicht schlimm, denn die Kanten
sind metallverstärkt und abgerundet. Ein guter Gondoliere kann seine Gondel extrem präzise steuern und das mit nur einem Paddel auf nur einer Seite. Beeindruckend irgendwie, aber trotzdem sieht
man öfters mal metallverstärkte Häuserkanten am Wasser stehen.
Abends gab es noch die Info, dass morgens um Vier der Hafen wieder für den Passagiersverkehr freigegeben werden sollte, also machten wir uns einen gemütlichen Abend in der Crewbar, denn den für
den nächsten Tag geplanten Hafen Split rechtzeitig zu erreichen wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Wir stellten uns also auf einen außerplanmäßigen Seetag ein und stellten unsere Wecker auf
um Neun, denn auch die Gäste wissen ja am Seetag so spontan nichts mit sich anzufangen, warum also früher aufstehen als es sein muss?
Um zwanzig vor Sieben riss mich Chef Ingo per Telefon dann aber mitten aus der Tiefschlafphase: „Tanja, der Kapitän erwartet dich um Sieben auf der Brücke!“ Ein paar Momente hat es gedauert, bis
mir klar wurde, was da grade gesagt wurde. Und nein, ich hatte nichts ausgefressen. Ich hatte die große Ehre, das Auslaufen aus Venedig per Lautsprecherdurchsage von der Brücke aus zu moderieren.
UNESCO-Welterbe-Stätten sind eigentlich immer auf die eine oder andere Weise beeindruckend, Venedig ganz besonders mit seinen 444 Brücken und winzigen Kanälen. Zwei Tage zuvor dachte ich schon, auf die coolste Art Venedig erlebt zu haben. Aber Venedig aus mehr als 30 Metern Höhe zu sehen, kann wohl kaum noch getoppt werden. Auf der Brücke war ich schon öfters und jedes Mal war es ein bisschen besonders, schließlich kommt man nicht alle Tage ins Gehirn des Schiffes. Sonst war das mal am Seetag für einen kleinen Teamausflug oder im Rahmen der Brückenführung, die wir auf der Prima für unsere Gäste als Ausflug angeboten haben. Aber während dem Ablegemanöver dabei sein zu dürfen, darauf kann man sich richtig was einbilden. Die Brücke war proppevoll, als ich mit noch sehr kleinen Schlafäuglein auf Deck 11 ankam: Der Kapitän wird von seinem direkten Vertreter, dem Staff-Kapitän, beim Ablegen unterstützt, außerdem ist der Sicherheitsoffizier anwesend und die sogenannte „Vier-bis-Acht-Wache“, die für die vier Stunden morgens und abends Dienst auf der Brücke haben. Wenn wir auf See sind, haben die dann nicht so viel zu tun, aber zum Auslaufen muss natürlich jeder besonders wach und konzentriert sein. Die venezianischen Hafenlotsen waren auch noch da, das sind im Hafengebiet fast die wichtigsten auf der Brücke, denn ohne den Lotsen geht gar nichts.
In der Decke der Brücke ist die sogenannte Black Box verbaut. Die zeichnet alles gesprochene Wort und alle elektronischen Signale und Einstellungen auf, damit im Notfall nachvollzogen werden
kann, wo ein Fehler gemacht wurde. Deswegen muss auch alles kommentiert werden, was auf der Brücke entschieden wird. Wenn der Kapitän aus der Nok (dem Überstand rechts und links an der Brücke,
von dem aus man direkt nach unten schauen und besser einparken kann) also ruft „Hart steuerbord!“, dann ruft jemand aus dem Fahrstand in der Mitte der Brücke zurück „Hart steuerbord?“ und der
Kapitän antwortet „Ja, hart steuerbord!“. Wenn der Kurs nach hart steuerbord gedreht wurde, ruft es aus dem Fahrstand „Kurs geändert nach hart steuerbord!“, der Kapitän ruft „Hart steuerbord?“
und der Fahrstand bestätigt „Ja, hart steuerbord!“ Sehr faszinierend alles und ich war ganz glücklich, dass ich meinen Kommentar erst starten musste, als die ganzen spannenden Sachen schon
geklärt waren. Der Himmel zeigte eine ganz hervorragende Weltuntergangsstimmung in dunkelgraublau und riesigen Wolkenbergen, die sich am Horizont türmten. Trotzdem schien die Sonne und so
leuchtete Venedigs Altstadt die Tristesse der letzten Tage einfach weg und bei so einem grandiosen Auslaufwetter vergisst man fast schon die entgangene Pizza. Ich saß in der Backbord-Nok, um
genau zu sehen was ich kommentieren muss, neben mir der Wachgänger Marben, der mich die ganzen anderthalb Stunden meines Aufenthaltes versorgte mit tassenweise Honigtee und den fluffigsten
Muffins, die die Galley zaubern kann. Und grade als wir vorbei sind am Markusplatz und am Dogenpalast, stupst er mich an und fragt „Bereit für was richtig cooles?“ und als ich mich umdrehte hing
ein perfekter Regenbogen über der Altstadt, dessen Ende in unserem Heckstrudel zu versinken schien.
Na, wenn das kein spektakuläres Ende eines zuletzt recht trostlosen Hafenaufenthaltes war!
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Michael aus Fulda (Freitag, 09 November 2018 18:03)
Eine spannende Reportage über Venedig bei Hochwasser und die Passage an der Stadt vorbei, die Du von der Brücke aus erleben konntest. Sicherlich eine bleibende Erinnerung.
Wenn Dich Dein Vorgesetzter für den Einsatz auf der Brücke vorschlägt, muss er Dein Können hoch einschätzen und viel von Dir halten. Auf diese Anerkennung kannst Du stolz sein.
Einer der größten Künstler Venedigs war Tizian. Er hat dieses schöne Gemälde geschaffen.
https://www.flickr.com/photos/hen-magonza/13886616751
Meisterhaft sind die Farbe der Haut, der Glanz der Haare, des Brokats und der Perlen, sowie die Feinheiten des Schmucks dargestellt. Selbstbewusst steht sie frei im Raum und schaut uns distanziert an. Das Mittelalter ist überwunden und mit der Renaissance beginnt die Neuzeit.