Menschgemachtes

Auf unserer Route durchs Nordmeer kommen wir an grandiosen Landschaften vorbei und vor allem an sehr vielfältigen. Island und Norwegen kann man eigentlich gar nicht vergleichen, außer vielleicht, dass beide Fjorde haben. Das Hinterland in Norwegen ist grün und saftig, in Island hat man dort die Gesteinswüsten und Geröllebenen. Spitzbergen ist sowieso ein Thema für sich.

Der große Bobbel ist die Wetterstation, rechts daneben der winzige Bobbel ist der Nordkap-Globus
Der große Bobbel ist die Wetterstation, rechts daneben der winzige Bobbel ist der Nordkap-Globus

Wenn man aber mal weggeht vom natürlich geformten, sieht man auch vieles, was nur durch Menschenhand zu dem wurde, was es heute ist. Bestes Beispiel: Nordkap. Ist eigentlich nur ein Stück Küste. Nicht mal spektakuläre Küste. Die Klippe ist einfach eine Klippe, 300 Meter hoch, ohne besondere Vorsprünge, ohne Formen, ohne besondere Pflanzen oder besondere Tiere, ohne irgendwas besonderes. Es ist einfach eine Klippe. Außenrum ist es ebenso unbesonders. Da sind mehr Klippen ohne irgendwas besonderes. Und obendrauf steht ein kleines unspektakuläres Metallgestell in Form eines Globus. Das ist das Zeichen für den nördlichsten Punkt Europas.

Skyline Spitzbergens
Skyline Spitzbergens

Blöd nur, dass wir grade von Spitzbergen kommen wenn wir das Nordkap sehen. Gut, dann kann man sagen der nördlichste Punkt Festlandeuropas. Blöd nur, dass das Nordkap auf einer der Küste vorgelagerten Insel ist. Gut, dann kann man sagen der nördlichste zugängliche Punkt Festlandeuropas. Ja, inzwischen vielleicht, seit es Brücke und Tunnel gibt, die die Insel mit dem Festland verbinden. Kurzum, ich verstehe den Hype ums Nordkap beim besten Willen nicht. Wer vom Festland kommt und sagt, dass er einmal das Ende des Kontinentes sehen will, klar, soll er halt. Aber wieso wir alle 17 Tage etwa 1.800 Menschen da hoch karren (und das sind nur die Leute von der luna), wenn die alle vorher schon 600 km weiter nördlich in Spitzbergen waren, ist mir ein absolutes Rätsel.

Das obligatorische Nordkap-Foto
Das obligatorische Nordkap-Foto

Immerhin gibt’s ein schönes Museum mit Café, Kinovorstellung, riesigem Souvenirladen und vor allem Crew-Rabatt auf Waffeln mit Sahne, also lässt es sich irgendwie da oben aushalten. Gäbe es all das aber nicht, wäre es tatsächlich nur ein Stück 300 Meter hohe Küste 600 km südlich vom nördlichsten Flecken Land Europas.
Der erste Tourist kam hier schon 1668 an, das war ein Priester und der hatte in meinen Augen noch einen richtigen Grund fürs Hiersein. Er hatte gelesen vom harten Leben im Norden, von den langen Winternächten und der ewigen Helligkeit im Sommer und dann wollte er das mit eigenen Augen sehen, wie man da im Norden lebt. Ohne Straßen, ohne Brücken, ohne Tunnel zum Nordkap – DAS ist was besonderes. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es das dann alles für größere Massen, zuerst natürlich nur mit Kutsche und als mehrtägige Reise konnte man das Nordkap besuchen und nach und nach wurde es weiter ausgebaut, weil irgendwie jeder da plötzlich hin wollte. Und seit den Siebzigern gibt es auch den Globus. Wenn die Mitternachtssonne tatsächlich scheint – was allerdings bei den Breiten und zu den nächtlichen Zeiten meist nebelbedingt nicht wahrscheinlich ist – ist es auch tatsächlich ziemlich toll. Aber ganz ehrlich denke ich mir, da könnte ich auch ein Bild kurz vor Sonnenuntergang machen, dann siehts genauso aus und ich hab mich nicht drei Tage drauf immer noch mit Übermüdung und schlechter Laune rumzuschlagen.

Nachts um halb 4 nördlich des Polarkreises
Nachts um halb 4 nördlich des Polarkreises

Eine coole Sache gibt es aber zu erzählen zu diesem Fleckchen Erde. Diese Insel, Magerøya, ist der Küste vorgelagert und am Festland gehört das Land großflächig den Samen, das sind die Ureinwohner Skandinaviens. Die leben inzwischen recht integriert in den Ortschaften Nordnorwegens, aber halten meist noch verstärkt an ihren Traditionen und Bräuchen fest. Und die Samen sind auch diejenigen, die die Rentierzucht perfektioniert haben. Das machen sie immer noch und im Winter sind die Rentiere auf dem Festland und werden durchgefüttert, aber im Sommer können sie sich auch selbst versorgen. Dafür werden sie alle eingesammelt und für 5.000 Rentiere geht es erstmal aufs Feuerwehrboot und damit setzen sie über nach Magerøya. Dort werden sie laufen gelassen und am Ende des Sommers wissen sie ganz genau, wann es an der Zeit ist, wieder abzuhauen, bevor das Wetter zu schlecht und die Gräser ungenießbar werden. Und dann hüpfen 5.000 Rentiere an Magerøyas Südküste in die Fluten, schwimmen den Kilometer ans Festland und werden dort von ihren Sami-Besitzern in Empfang genommen. Sachen gibt’s…

Eismeerkathedrale Tromsö - der Designer hat sich keine Gedanken gemacht, wie man die kleinen Scheiben im Dach putzen könnte; jetzt muss einmal im Monat eine Truppe Hobbykletterer mit Putzzeug kommen..
Eismeerkathedrale Tromsö - der Designer hat sich keine Gedanken gemacht, wie man die kleinen Scheiben im Dach putzen könnte; jetzt muss einmal im Monat eine Truppe Hobbykletterer mit Putzzeug kommen..

Wenn das Nordkap der nördlichste Punkt Europas ist, ist Hammerfest die nördlichste Stadt Europas. Wäre da nicht Honningsvåg, der Hafen, in dem wir fürs Nordkap festmachen. Das ist auch eine Stadt und das ist nördlicher als Hammerfest. Als wir wegen der Verzögerung durch das Eis vor Spitzbergen letzten Monat Hammerfest ausfallen lassen mussten, kam tatsächlich ein Mann an meinen Schalter und beschwerte sich lauthals wieso wir denn nicht Tromsø ausfallen ließen, davon hätte schließlich noch nie jemand was gehört und Hammerfest wäre doch so interessant. Auf die (absolut berechtigte) Frage, was denn so interessant an Hammerfest sei, sagte er mir mit großen Augen „Na, das ist der nördlichste Ort der Welt!“, da sagte ich „Was ist mit Grönland?“, dann sagte er „Ja, dann eben Europas!“, da sagte ich „Was ist mit Longyearbyen?“, dann sagte er „Dann eben Festlandeuropas!“ da sagte ich „Aber was ist mit Honningsvåg?“, dann sagte er nichts mehr und gab sich damit zufrieden, dass vielleicht doch Tromsø der schönere Hafen ist. Schließlich hat Tromsø die nördlichste Universität der Welt (wäre da nicht der Campus in Spitzbergen), die nördlichste Brauerei der Welt (wäre da nicht die in Spitzbergen) und das nördlichste Planetarium der Welt (tatsächlich das in Tromsø).

Gästeauflauf auf dem Pooldeck als das Nordkap steuerbords vorbeifuhr
Gästeauflauf auf dem Pooldeck als das Nordkap steuerbords vorbeifuhr

Hammerfest darf tatsächlich offiziell mit „Nördlichste Stadt der Welt“ werben. Es gab eine Absprache zwischen Honningsvåg und Hammerfest und es wurde beschlossen, dass das klar geht. Honningsvåg hat schließlich das Nordkap, da darf Hammerfest behaupten, was sie wollen. Hammerfest hat immerhin den Eisbärenclub. Das ist der super-exklusive Club aller…äh ja, keine Ahnung von wem eigentlich. Er nennt sich „königlich und uralt“ und ist ein Club für alle, die beitreten möchten. Die Mitgliedschaft kostet um die 18€ und dafür bekommt man eine super-exklusive Anstecknadel und eine super-exklusive Urkunde und einen super-exklusiven Mitgliedsausweis. Mitglied wird man auf Lebenszeit und bekommt dafür lebenlang kostenlosen Eintritt ins kleine Museum über Hammerfests Geschichte und die Tiere der Arktis. Als Mitglied wird man zur jährlichen Hauptversammlung eingeladen – die lustigerweise mitten im Januar stattfindet, wo die Wetterverhältnisse es den meisten unmöglich machen teilzunehmen. Aber hey, welchen Club kann schon behaupten, 250.000 Mitglieder zu haben, die sich allesamt herzlich wenig um eine Hauptversammlung scheren? Man sagt, Elvis wollte Mitglied werden, aber er durfte nicht. Begründung: Mitglieder müssen den Mitgliedschaftsantrag persönlich in Hammerfest ausfüllen. Allein dafür hat Hammerfest eine Auszeichnung verdient, warum dann nicht also auch „nördlichste Stadt der Welt“?

Skara Brae
Skara Brae

Der ganze Hype um Nordkap und Eisbärenclub und nördlichstes Wasauchimmer geht irgendwie etwas an mir vorbei. Ich finds zum Beispiel auf den Orkneys viel schöner. Da gibt es auch so manches, was der Mensch erst zu dem gemacht hat, was es heute ist. Zum Beispiel gibt es eine Jungsteinzeitsiedlung namens Skara Brae, die war Jahrzehnte und Jahrhunderte lang unter einer Sanddüne begraben, bis sie irgendwann in einem großen Sturm freigelegt wurde und heute kann man sich anschauen, wie die Menschen damals gelebt und gearbeitet haben – ganz ohne Metallgegenstände, denn das war ja noch lange vor der Zeit, als dann Eisen gefunden und verarbeitet wurde. Richtig faszinierend, da rumzuspazieren und in die alten Häuser reinschauen zu können. Die Dächer waren aus Holz und sind mittlerweile verrottet, aber die Wände stehen noch. Denn auf den Orkneys gab es so wenig Holz, dass man sehr früh schon mit Stein gebaut hat.

Oh hey! Stehende Steine!
Oh hey! Stehende Steine!

Nebenan steht dann auch gleich das, wofür die Orkneys bekannt sind: die Steinkreise. Wirkliche Kreise lassen sich teilweise noch erahnen, aber meist stehen da nur noch einzelne Steine in der Gegend rum. Beim Ring of Brodgar immerhin noch 27 von ursprünglich über 50. Er soll größer sein als Stonehenge, aber so richtig sehen tu ichs nicht. Stonehenge war doch ein bisschen beeindruckender. Der älteste Steinkreis ist auch hier zu Hause, aber weil er nur noch aus drei Steinen besteht, hat er nicht mal mehr den „Ring“ im Namen verdient. Die Standing Stones of Stenness sind eine der größten Sehenswürdigkeiten der Insel. Naja...dann doch lieber das natürliche Gegenstück: die Steilklippen von Yesnaby, sehr beeindruckend geht’s da steil runter in den Atlantik und zuletzt haben sie traurige Berühmtheit erlangt als Schauplatz von zwei Selfiecides (Tod durch Selfie), weil irgendwelche dummen Leute nicht aufgepasst haben.

Marwick Head Naturreservat
Marwick Head Naturreservat

Etwas weniger wahrscheinlich ist der Absturz an den grasbewachsenen Klippen etwas weiter die Küste rauf. Die sind Vogelschutzgebiet und durchlöchert von Karnickellöchern, also muss man fast noch mehr aufpassen, wo man hintritt, aber weil man sich eh langsam bewegt um die Papageientaucher nicht zu verscheuchen, passiert hier erstaunlich wenig. Richtig tolle Natur auf den Orkneys, da gibt es so viel mehr zu sehen als am ollen Nordkap.
Und auch mehr als in den Fischerdörfern Islands. Wenn man in Island von einem Dorf spricht, heißt es nicht wie in Norwegen kleine rotweiße Holzhäuschen an glasklarem Wasser und Dorfidylle. Nein, das heißt dann Dorf. Winzige Orte, mit etwas Glück findet man vielleicht noch ein Café mit Bäckerei. Und statt Dorfidylle hat man den penetranten Fischgestank dauernd in der Nase. Ein so ein Dörfchen ist Súdureyri. Das einzig coole, das man machen kann als Tourist, ist, die lokale Fischfabrik anzuschauen. Etwas eklig und für vegetarische Moralapostel vermutlich eher nicht geeignet, wenn man da über blutgetränkten und mit Fischresten übersäten Boden schlurft und den Arbeitern dabei zusieht, wie sie köpfen, häuten, filetieren.

Naja…wenigstens die Natur ist meist ganz schön, die man vom Bus aus sieht. Womit wir wieder beim Thema wären: die Natur kann irgendwie Sachen besser machen als der Mensch. Wobei die menschgemachte Waffel vom Nordkap…

 

PS: Wenn man bei Wikipedia „List of northernmost items“ sucht, findet sich tatsächlich eine beachtliche Anzahl von allem möglichen in Svalbard. Manchmal frage ich mich aber auch, ob die mit Absicht irgendwas dort gebaut oder eingerichtet haben, damit sie sagen können „Wir haben den nördlichsten Limousinen-Miet-Service der Welt!“ Wozu braucht man eine Stretchlimo für die 40km Straße in Longyearbyen? Oder einen Kreisverkehr?

 

 

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Flo (Montag, 10 Juli 2017 17:58)

    Wenn du schon den Hype ums Nordkap nicht verstehst, bist du wenigstens Mitglied im Eisbärenklub geworden? (Ich fände beides erstrebenswert :-)