Die Kreuzfahrtroute durch den Indischen Ozean hat mich gleich zu Beginn sehr positiv überrascht. Wenn man in der Karibik ein paar Inseln gesehen hat, sieht man doch immer recht viele Parallelen zwischen den einzelnen Ländern. Aber hier sind die Inselnationen wirklich vielfältig und jedes unserer Ziele hat irgendwie was eigenes, was die anderen nicht haben. Trotzdem hat mich besonders Madagaskar beeindruckt und deswegen kann ich nicht umhin, nochmal ein paar Eindrücke mit euch zu teilen.
Antsiranana und Tamatave sind die beiden Häfen, wo man so richtig das afrikanische Stadtleben kennenlernt oder wenigstens ein paar Eindrücke bekommt, wenn man mit dem Bus durch fährt. Beides sind
die größten Städte ihrer jeweiligen Region und damit Metropolen im madagassischen Sinne. Wie schon erwähnt kann man diese Städte nicht vergleichen mit dem, was wir in Europa oder in anderen
touristisch erschlossenen Gegenden der Welt unter einer Stadt verstehen. Es gibt keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten innerhalb der Stadt, vielleicht mal einen kleinen botanischen Garten, der
aber auch alles andere ist, als das was wir uns darunter vorstellen würden. In Diego Suarez (also Antsiranana) zum Beispiel wurde er uns als Krokodilpark verkauft und erst als wir dann wirklich
vor Ort waren, stellten wir fest, dass zwei mickrige Krokos in einem ranzigen Teich nicht ganz ein Krokodilpark sind. Seitdem heißt er tropischer Garten und alle sind glücklich damit. Museen gibt
es im größeren Stil nicht, vielleicht mal ein städtisches Museum, das ist aber üblicherweise in fünf Minuten fertig besucht und nicht sonderlich interessant für uns Museumskenner aus
Europa.
Es gibt in den größeren Städten üblicherweise einen Unabhängigkeitsplatz zum Gedenken an die Befreiung des Landes vor gut 60 Jahren. Das ist das Zentrum des sozialen Lebens wenn es etwas zu
feiern gibt. Wenn nicht, lebt man nicht in Diego oder in Tamatave, sondern in seinem kleinen Stadtteil, denn für viele ist es finanziell gar nicht so oft möglich, aus dem eigenen Viertel raus zu
kommen.
Wenn man durch die Stadt fährt, sieht man an Geschäften alles, was es bei uns auch in einer Stadt gibt. Nur eben anders. Die Autowerkstatt ist nicht hinter einem Garagentor oder einer Hofeinfahrt versteckt, sondern findet am Straßenrand statt, indem junge Männer ihre Flipflops vor der aufgeklappten Motorhaube stehen lassen und dann auf allen Vieren in den Motorraum krabbeln und richten was zu richten ist. Wenn es sich nicht ums hochpreisige Segment handelt, gibt es Klamotten nicht im Laden zu kaufen, sondern im hölzernen Verschlag an der Straße. Fleischer und Fischhandel haben keine Kühltheken und verflieste Wände, sondern einen hölzernen Tisch unter einem Sonnendach und einen Angestellten, der die Fliegen mit einem Stück Pappe wegwedelt. Frische Lebensmittel kauft man nicht im Supermarkt, sondern in der Markthalle, wo auf steinernen Theken alles aufgestapelt wird, was eben grade so geerntet wurde. Hier haben die Fleischtheken sogar teilweise eine metallene Oberfläche, die mit Wasser abgespült werden können wenn das alte Fleisch weg ist und bevor das neue Fleisch kommt. Wer Saft oder Schnaps selbst macht, verkauft den auf dem Markt in allen Gefäßen, die er mit Deckel finden kann. In Diego habe ich tatsächlich auch einen richtigen Supermarkt gesehen, sehr schön madagassisch hieß er natürlich „Supermaki“, wie die kleinen Halbaffen, die überall rumhüpfen. Elektronikartikel gibt es in kleinen Geschäften am Straßenrand, wegen des vergleichsweise hohen Wertes der Produkte meistens in einem richtigen Gebäude mit abschließbarer Tür. Neben Steckern, Adaptern, USB-Sticks und Autoradios gibt es dort immer eine wahnsinnige Auswahl an Solaranlagen. Wer auf dem Dorf lebt, hat üblicherweise keinen Strom und versorgt sich (wenn er es sich leisten kann) mit eigenem Solarstrom, indem ein kleines oder größeres Panel mit Solarzellen auf dem Dach der Hütte angebracht wird. Unten dran hängt dann eine Mehrfahrsteckdose, an deren Dosen jeweils nochmal Mehrfachstecker hängen, sodass das ganze Dorf seine Handys zum Laden vorbeibringen kann.
Es gibt Schuhgeschäfte, wo alle Schuhe im Angebot auf eine Plane geworfen werden und dann sucht man sich selbst zwei aus, die irgendwie farblich und größentechnisch zusammenpassen. Es gibt Geschäfte, die hochspezialisiert sind, auf das, was sie anbieten. Eimer-Geschäfte zum Beispiel oder Kissen-Geschäfte. Oder Geschäfte, die nur Auflagen für Autositze verkaufen Wer eine neue Lieferung bekommt, hat nicht den LKW oder den Container vor der Tür stehen, sondern vielleicht noch einen Truck mit Ladefläche, viel öfters aber eine handgezogene Rikscha, auf der so viel Zeug drauf gestapelt wird, wie nur irgendwie geht. Wenn es zu schwer wird für einen zum Ziehen, bekommt man von irgendwoher immer eine extra helfende Hand. Wer eine Rikscha zieht, tut das natürlich nicht mit Sicherheitsschuhen, sondern in Flipflops oder barfuß. Man erkennt höhere Angestellte oder solche, die im hochpreisigen Tourismussegment tätig sind, vor allem an ihrem Schuhwerk. Die haben dann schickere Flipflops an oder welche mit Absatz oder sogar richtig feste Schuhe. Feste Schuhe scheinen generell eher ein Fremdwort zu sein. Wieso auch nicht, schließlich ist es immer so heiß und staubig, dass jeder Schuh nach ein paar Monaten vermutlich aufgeben würde, wohingegen Flipflops auch im dreimal geflickten Zustand noch zu dem Taugen, wofür sie gemacht wurden. Ich hatte mir nie drüber Gedanken gemacht, aber ich glaube, Flipflops sind wahrscheinlich die meistgetragenen Schuhe der Welt. Sogar auf den Baustellen arbeitet man in Flipflops, natürlich ohne Helm oder Handschuhe, das braucht ja irgendwie niemand außer denen, die es nicht anders gelernt haben.
Je weiter raus man kommt aus den Städten, desto mehr werden die Flipflops abgelöst von gar keinen Schuhen. Die Männer, die eine Straße ausbessern, machen das üblicherweise barfuß – da ist die Verletzungsgefahr vermutlich auch geringer als wenn man in den Flipflops stolpert. Und je weiter raus man kommt, desto mehr sieht man auch das richtige Leben in Madagaskar, denn Städte sind eher die Ausnahme. Der Großteil des Lebens findet in der Dorfgemeinschaft statt und die meisten bleiben ihr Leben lang im Dorf, in dem sie geboren wurden. Das hat einen guten Grund, denn in deinem Dorf leben nicht nur deine Familie und Freunde, sondern auch deine Ahnen. Die Geister der Vorfahren sterben nicht mit ihren Körpern, sondern bleiben laut madagassischem Glauben in der Luft um uns herum und dienen als Vermittler zwischen den Menschen und Gott. Wenn die Ahnen besänftigt sind, werden sie Gott zum Positiven beeinflussen, sodass Angelegenheiten mit Gott zugunsten der Menschen geregelt werden können. Vertreter der Ahnen sind die Dorfältesten, meist gibt es einen Schamanen, der wie ein Medizinmann fungiert und alle wichtigen Entscheidungen im Dorf trifft. Er ist gelehrt in der Kommunikation mit den Ahnen und in der Kunde über Heilpflanzen, aber sein gesamtes Wissen ist nur mündlich überliefert worden. Wenn ein Schamane stirbt, bleibt auch seine Seele erhalten, weil er eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Dorflebens war, wird er nach seinem Tod nicht nur von seinen eigenen Angehörigen verehrt, sondern vom gesamten Dorf.
Damit die Geister der Ahnen überhaupt ihren Körper verlassen können, gibt es spezielle Traditionen, die ihnen die Passage ins Jenseits ermöglichen. Stirbt ein Angehöriger, wird er in
Leichentücher eingeschlagen und in einen Sarg gelegt, welcher in eine Gruft gelegt wird. Das kann je nach Finanzlage der Angehörigen ein richtiger kleiner Palast sein mit Säulen und aus Stein.
Alternativ wird der Sarg eingemauert und das Ganze von außen mit Fliesen verkleidet. Das ist üblich in diversen tropischen Ländern, weil so das Grab länger und besser geschützt gegen Wind und
Wetter und das Grab auch nicht unterspült werden kann nach extremen Regenfällen oder Überschwemmungen. Das Grab wird verschlossen und die Zeit der Trauer beginnt. Die Trauerzeit dauert ganze fünf
Jahre, danach folgt eines der wohl wichtigsten madagassischen Rituale, das sogenannte Famadihana. Das ist die Umbettung der Toten und ohne die würde es keine Ahnen geben. Nach fünf Jahren im Grab
ist der Geist bereit, seinen Körper zu verlassen. Also werden das Grab und der Sarg darin zeremoniell geöffnet, die sterblichen Überreste des Toten herausgenommen, in neue Leichentücher
eingeschlagen und wieder ins Grab gelegt, aber nicht in den Sarg. Sollte der Geist des Toten immer noch im Körper sein, hat er so die Möglichkeit, das Grab jederzeit zu verlassen, aber aus dem
Sarg würde er nicht aus eigener Kraft hinaus kommen. In einem Grab, das älter ist als fünf Jahre, steht also ein leerer Sarg und daneben liegt der Tote im Leichentuch.
Die Ahnen sagen dem Schamanen, wann es nach den ersten fünf Jahren Zeit ist, die Toten umzubetten, mindestens aber alle zehn Jahre. Wenn ein wichtiges Fest im Dorf stattfindet, kann auch eine
außerplanmäßige Umbettung vorgenommen werden, wenn die Ahnen zwingend bei dem Fest dabei sein sollen. Oft werden die Toten umgebettet, wenn die Ahnen ganz schnell besänftigt werden müssen, zum
Beispiel wenn ein sogenanntes Fady gebrochen wurde. Das ist eine Art Tabu, das vom Schamanen (also von den Ahnen) festgelegt wurde. Spezielle Angewohnheiten können tabu sein oder gewisse Pflanzen
oder Tiere zu berühren oder von einem heiligen Ort zu sprechen, obwohl das vorher als Fady festgelegt wurde. Wenn dann die Ahnen sauer sind, muss ganz schnell eine Famadihana ausgerichtet werden,
damit der Bruch des Fady schnell vergessen wird. Ich hab gelesen, dass einige Wissenschaftler davon ausgehen, dass das anhaltende Problem mit der Pest in Madagaskar vermutlich auch durch die
Famadihanas kommt, weil die Einheimischen regelmäßig ohne entsprechenden Atem- und Hautschutz mit Toten in Kontakt kommen.
Es ist richtig teuer, so eine Umbettung auszurichten. Das ganze Dorf ist anwesend, es wird gefeiert und getanzt und musiziert, und meist wird ein Zebu-Rind geopfert und das kann immer Kosten
verursachen bzw. Gewinnausfall, wenn man danach kein Zebu mehr hat um die Felder zu pflügen oder den Ochsenkarren zu ziehen. Manche Familien oder sogar ganze Dörfer verschulden sich auf Jahre und
Jahrzehnte, aber überleben werden sie trotzdem, denn die Ahnen kümmern sich ja dann darum.
Es gibt achtzehn verschiedene Stämme in Madagaskar, man spricht von Ethnien, die alle ihre eigenen Traditionen und Gebräuche haben, aber die Grundlagen sind überall die gleichen. Umgesetzt werden
sie unterschiedlich. Zum Beispiel ist es nur in einigen Regionen des Landes üblich, die sogenannte Famorana vorzunehmen, das ist die Beschneidung der kleinen Jungen, damit sie als vollständiges
Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert werden können. Meist sind sie höchstens drei Jahre alt wenn sie beschnitten werden, meist im Winter, damit die Wunde schneller heilen kann. Das begleitende
Fest dauert die ganze Nacht und die Beschneidung selbst wird immer durch einen Medizinmann vorgenommen, der sie genauso durchführt wie es seit Generationen im Dorf gemacht wird. Großer Teil der
Zeremonie ist der Verzehr der Vorhaut des Jungen durch den Vater, der sie in eine Banane steckt und dann die Banane isst. Und da fragt man sich noch, woher die Krankheiten kommen… Falls ein Mann
unbeschnitten stirbt, wird er zwar nicht offiziell verstoßen, aber er darf nicht im Grab der Familie beigesetzt werden, sondern nur daneben.
Was in allen Regionen gleich wichtig ist, ist der Besitz von Zebus, also von den Buckelrindern, die vor allem als Nutzvieh eingesetzt werden. Landwirtschaft ist das wichtigste Standbein für die
meisten Gegenden des Landes und so braucht man Vieh zur Bewirtschaftung der Felder und Plantagen, als Fleisch- und Milchlieferant und natürlich als Opfertiere für wichtige Anlässe. Wer keine
eigenen Zebus besitzt, ist kaum etwas wert als Mitglied der Dorfgemeinschaft. Entsprechend bedeutet ein Zebu Reichtum und die Gewissheit, überleben zu können. In manchen Regionen wird ein Mann
seine Tochter nur zur Hochzeit freigeben, wenn der zukünftige Bräutigam vorher ein Zebu geklaut hat als Zeichen seines Mutes und seiner Überzeugung, die Frau heiraten zu wollen. Ein großes
Problem der gesamten Wirtschaftssituation ist, dass beim Handel und bei der Zucht von Zebus vor allem nach der Farbe und Musterung und nach der Form und Länge der Hörner geschaut wird, wenn der
Wert festgelegt wird. Das ist ziemlich dumm, denn würde man nach Gesundheit und Ertragreiche gehen, könnte man in vielen Teilen des Landes vermutlich recht schnell eine akute Hungersnot abwenden.
Aber die Traditionen sind einfach so verwurzelt in der Gesellschaft, dass es schwer ist, so etwas zu ändern.
Milch liefern die Zebus kaum, deswegen werden sie eher als Schlachtvieh genutzt als zur Milchproduktion. Die Entscheidung, ein Zebu zu schlachten, ist aber nie eine einfache, wenn danach das Zug-
und Transportvieh fehlt. Ich hab gelesen, dass nur fünf Prozent der Zebus jedes Jahr geschlachtet werden und dadurch werden es immer mehr Zebus (heute gibt es schon geschätzt 15 Millionen davon)
und der Bedarf an Weideflächen nimmt stetig zu. Wenigstens wurden schon frühzeitig viele Gebiete unter Schutz gestellt, sodass die Nationalparks wenigstens nichts befürchten brauchen, aber auf
Dauer muss sich die Regierung etwas einfallen lassen, um der Wüstenbildung vorzubeugen und das Land auf Vordermann zu bringen.
Faszinierend, was man hier alles lernt. Vor allem hatte ich vor ein paar Jahren im Rahmen meines Auslandssemesters in der Anthropologie-Vorlesung einen Aufsatz schreiben müssen zur Naturmedizin
und –religion, das war richtig interessant. Und jetzt solche Dinge live von den Reiseleitern erzählt zu bekommen, ist echt was besonderes und gibt viel Anlass zum Nachdenken über andere Kulturen
und Traditionen.
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Michael aus Fulda (Freitag, 08 Februar 2019 18:13)
Man merkt Deinem umfassenden und detailgenauen Bericht über die Einheimischen an, dass Du ethnologisch geschult bist. Die Beschreibung des dort verbreiteten Aberglauben lässt mich aber vor Entsetzen starr werden. Wie kann es sein, dass es immer noch Gegenden gibt, in denen die geistige Aufklärung, das vernünftige Denken, noch nicht begonnen hat. In Europa hat sie nach dem Mittelalter mit der Renaissance eingesetzt, ist jedoch auch hier noch nicht überall angekommen. Die Vernunft ist zwar in der Wissenschaft üblich, aber im alltäglichen Leben geht es doch noch immer sehr unvernünftig zu.
Im Internet habe ich auf die Schnelle folgenden Text gefunden. http://www.philolex.de/aufklaer.htm
„Allgemeine Grundzüge der Aufklärung
Vernunft: Das wichtigste Merkmal der Aufklärung ist die hohe Bewertung der Vernunft. Die Vernunft sei das Wesen des Menschen. Die Welt sei in ihrer Gesamtheit vernünftig angelegt und könne von der menschlichen Vernunft erkannt werden. Die Vernunft sei die einzige und letzte Instanz, die über Wahrheit oder Falschheit einer Erkenntnis entscheidet. (Rationalismus)
Gegen Irrationalismus: Aus dieser hohen Bewertung der Vernunft ergibt sich natürlich eine Kritik an allen autoritätsbezogenen, irrationalen Denkrichtungen wie christlicher Offenbarungsglaube, Metaphysik, Aberglaube, politischen Dogmatismus u. ä. Auch Traditionen und Institutionen (politische, gesellschaftliche) werden der Kritik unterzogen.“