Arm im Geist

Madagaskar lässt mich tatsächlich nicht los. So viele Eindrücke, die ich kaum vergleichen kann mit allem, was ich in meinem Leben schon gesehen habe, und dann so viele Menschen, die meine Faszination so gar nicht verstehen können oder wollen.

Fischer auf dem Weg zur Arbeit
Fischer auf dem Weg zur Arbeit

Unser „kurzes“ Team-Meeting konnte nicht kurz bleiben, nachdem wir angefangen hatten, über Madagaskar zu sprechen und über die Gefühle, die dieses Land bei uns und unseren Gästen auslöst. Beim Abendessen erzählen wir uns Geschichten, die uns am Tag passiert sind, und diese Geschichten lösen an den Abenden nach Madagaskar die größten Diskussionen in der Messe aus. Ich glaube, die Kollegen aus anderen Abteilungen sind hin und her gerissen, ob sie gerne auch mehr auf Ausflug gehen würden, um das alles live zu sehen, was wir berichten, oder doch ganz froh sind, nicht raus zu müssen. Zum Übersetzen haben wir immer Bedarf an Kollegen aus anderen Abteilungen, die als sogenannte Hilfsscouts mit auf Ausflug gehen. Für sie ist es Arbeitszeit, für die sie ganz normal bezahlt werden, aber sie haben die Möglichkeit, auch mal mehr von unseren Destinationen zu sehen als nur die unmittelbare Umgebung des Hafens. Für Madagaskar und die gefühlten tausend Reiseleiter brauchten wir besonders viele Hilfsscouts und machten entsprechend aggressiv Werbung dafür. Es gibt immer Kollegen, die keine Lust haben auf einen ganzen Tag non-stop mit den Gästen auf Ausflug zu sein, oder die nicht so sicher sind im Englischen und lieber nicht Übersetzen wollen. Aber wir haben auf dieser Route Kolleginnen, die von Saisonbeginn an abgelehnt haben mal mitzukommen und die sich tatsächlich weigern, überhaupt das Schiff bzw. den Hafen zu verlassen. Raus auf die Pier um Eistee zu verteilen ist da das höchste der Gefühle und weiter vom Schiff wollen sie sich nicht entfernen, denn „je ärmer das Land, desto höher die Wahrscheinlichkeit erschossen zu werden“.

Lemur
Lemur

Das war mit die bescheuertste Verallgemeinerung, die ich je gehört habe. Wie ich so bin, habe ich das natürlich gleich mal recherchiert und Wikipedia hat da ja immer ganz hervorragende Listen (ich liebe Listen!), die zum Beispiel sagen, dass unter den 50 Städten mit den meisten Morden pro Einwohner nur drei Mal ein afrikanisches Land erwähnt wird und alle 47 weiteren sind Städte in Mittel- und Südamerika und den USA. Gut, mag dran liegen, dass Madagaskar einfach nicht so viele Städte hat. Wenn man auf die entsprechende Liste der Länder mit den meisten Morden schaut, sieht das Bild tatsächlich ähnlich aus und ganz oben stehen wieder ganz viele südamerikanische Länder. Wie kommen diese Kollegen also drauf, dass es gefährlicher sein sollte, in Madagaskar an Land zu gehen, genau die Kollegen, die auf den Bahamas, in Jamaika, Saint Kitts, Dominica, Saint Lucia, Curaçao, Antigua, in der Dom.Rep., sogar auf den Caymans, und ja, auch auf den Seychellen den ganzen Tag mit Bargeld und teuren Handys in den Taschen und teilweise höchst aufreizenden Strand-Outfits völlig sorglos Taxi und Bus fahren?
Ist doch traurig, das ein Land so abgestempelt wird, wo es auf 100 Einwohner in Madagaskar nicht mal eine ganze private Waffe gibt, während es in den USA 120 sind – wo eben genannte Kollegen schließlich auch echt gerne an den Stränden und beim Shoppen sind. Übrigens – einfach weil ich es interessant finde – sind nur eine Million der privaten Waffen in den USA registriert, während die anderen 390 Millionen nicht registriert sind. 390 Millionen!!

Haustiere beim Gassigehen
Haustiere beim Gassigehen

Die Frage nach der Sicherheit kam von den Gästen recht häufig am Schalter. Finde ich super, wenn Leute fragen bevor sie einfach Annahmen treffen und ausnahmsweise muss ich diese Gäste mehr loben als besagte Kollegen. Meine Standardantwort war ein völlig ernst gemeintes „Ich fühle mich in allen unseren madagassischen Häfen sicherer als in jeder größeren Stadt in Europa“. Klar gab es Berichte über geklaute Handys und Geldbörsen. Aber ganz ehrlich, wer verdenkt es den Räubern? Wenn da ein iPhone durch die Gegend gereicht wird, das zu verkaufen eine Familie vermutlich über mehrere Monate das Überleben sichern könnte, bekommt der Ausdruck „Gelegenheit macht Diebe“ eine ganz neue Dimension. Wer könnte sich jemals so eine Gelegenheit entgehen lassen? Wer beklaut wird, kann eine Anzeige gegen Unbekannt erstatten, aber ich bezweifle, dass auch nur einer der betroffenen Gäste wirklich mit einer Lösung rechnet in so einem Land wie Madagaskar. Wenn man vor dem Landgang drüber nachdenkt, wo man sich befindet und dass die Armut gewaltig ist, kann man solche Vorkommnisse eigentlich verhindern.
Was man noch besser verhindern könnte, was aber unerklärlicherweise trotzdem passiert, ist folgende Geschichte: eine Gästin kam zurück an Bord und war ganz aufgelöst und beschwerte sich bei einer meiner Kolleginnen, dass ihr 250 Euro praktisch geklaut wurden. Wieso „praktisch geklaut“? Auf Nachfrage erzählte sie, dass da zwei Kinder waren, die gebettelt haben um Bonbons und Stifte. Sie hatte weder das eine noch das andere, also hat sie jedem Kind einen 10-Euro-Schein in die Hand gedrückt. Wie es aber in engen Dorfgemeinschaften so ist, wo sich jeder kennt, bleibt es eigentlich nie bei den zwei Kindern. Sobald irgendwo das erste Bonbon-Papierchen aus einer Tasche lugt, vervielfachen sich die anwesenden Kinder ohne dass man jemals sieht, wo sie so plötzlich herkommen. Also standen plötzlich sehr viel mehr als zwei Kinder bei der Frau und sie gab jedem 10-Euro-Scheine bis sie keine mehr hatte. Im Endeffekt hat sie so 250 Euro an die einheimischen Kinder verteilt und gab die Schuld…natürlich uns.

die Baobabs sind schon viel grüner als zu Beginn der Saison (Regenzeit und so...)
die Baobabs sind schon viel grüner als zu Beginn der Saison (Regenzeit und so...)

Unsere Lektorin an Bord und auch wir in Ausflugspräsentationen wurden aggressiver und aggressiver in unseren Versuchen, ein Land zu erklären, das sich so schwer in Worte fassen lässt. Aber damit solche Sachen nicht wieder passieren, hatten wir das Gefühl, den Gästen eigentlich schon fast Angst zu machen, sodass jeder genau weiß, worauf er sich gefasst machen muss, wenn er das Schiff verlässt. So gern wir die Gäste haben, die Bonbons kaufen um sie den Kindern zu verteilen, teilweise hat das richtig überhandgenommen und wenn wir einen Markt oder ein Dorf verlassen haben, lagen überall die Bonbonpapiere und Lolli-Stiele rum. Immer wenn man denkt, man tut einfach nur was gutes, kommen wieder so viele neue Dinge auf, an die man gar nicht gedacht hatte. Jetzt sagen wir den Gästen, sie sollen lieber kleine Kuscheltiere oder Kugelschreiber mit raus nehmen, wo die Freude im ersten Moment vielleicht nicht ganz so groß ist wie bei einem knallbunten Kaubonbon, aber länger andauert, wenn die Kinder dann länger etwas zum Spielen oder für die Schule haben. Es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Zahnärzte an unsere Schalter kamen um uns darüber zu informieren, dass das ja unverantwortlich sei, es gutzuheißen, wenn Gäste ihre Süßigkeiten in einem Land verteilen wollen, wo jedes zweite Kind vermutlich noch nie eine Zahnbürste im Mund hatte.

Traumstrand in Nosy Be
Traumstrand in Nosy Be

Schwierig, eine Balance zu finden zwischen Gutes wollen und Gutes tun. Ich schätze, das ist dieselbe Problematik, von der man öfters mal liest wenn es um die Freiwilligenprogramme geht. Einerseits, ist es toll, wenn junge Leute helfen wollen und lernen, wie anders das Leben sein kann, und es ist natürlich toll für die Kinder in den Heimen und Lagern, jemand neuen aufregenden zum Spielen zu haben. Andererseits merkt man wohl teilweise schon in den Heimen, die regelmäßig Freiwillige zu sich holen, dass die Kinder aufhören, sich mit ihnen zu beschäftigen. Reiner Selbstschutz, weil sie inzwischen wissen, dass da jemand kommt und eine Weile bleibt, dann aber wieder geht und nie wieder zurück kommt – und das natürlich bei Kindern, die üblicherweise schon viel Verlust erleben mussten.
Es wird wahrscheinlich noch dauern, bis AIDA und auch Costa, die mit einem ihrer Schiffe hier regelmäßig vorbei kommen, eine Lösung gefunden haben, alle glücklich zu machen. Es gibt bereits erste Gespräche zu Kooperationen (wir gehören ja auch schließlich zur gleichen Mutter-Reederei wie Costa) bezüglich Unterstützung an Land. Für ein Kinderheim wurde an Bord gesammelt und jede Abteilung hat zusammengesucht, was es eben noch so gab an Dingen, die eigentlich keiner mehr gebrauchen kann, die aber immer noch zu gut sind zum Wegwerfen – und so ging eine riesige Kiste mit Kuscheltieren, T-Shirts, Handtüchern und Buntstiften mit einigen Vertretern des Schiffs und unserem Agenten Alessandro eines Tages an Land. Bis daraus eine regelmäßige Sache wird, muss noch viel getan werden. Aber ich denke, die Veränderung fängt im Kleinen an, und solange wir alle unseren kleinen Schritt machen um die Welt zu informieren, welch krasse Länder es auf unserer Welt gibt und wieso sie es trotz allem wert sind zu besuchen, kann sich tatsächlich etwas tun für diese so unglaublich herzlichen Menschen dort.

Dorfjunge am Strand
Dorfjunge am Strand

Manche müssen einfach noch lernen, dass es sinnlos ist, den Bettlern einfach so 10 Euro fürs Nichtstun in die Hand zu drücken, wenn nebenan die hart und ehrlich arbeitenden Bauernfrauen ihre Litschis bündelweise verkaufen zu 750 Ariary für 20 Litschis – das entspricht 19 Cent. Manche müssen noch lernen, dass so ein Land andere Sorgen hat als sich Gedanken zu machen über Mülltrennung. Und manche (besonders einige der jüngeren Kolleginnen) müssen eben noch lernen, dass Kommentare wie „Der könnte aber auch mal ‘ne Runde Deo vertragen“ oder „Iih, die hat aber lange Haare an den Beinen“ vielleicht in unserer westlichen Kultur einen Platz haben, aber andernorts doch eher unangebracht sind, wo man schon froh ist, einen Eimer sauberes Wasser und vielleicht sogar ein Stückchen Seife zu haben.
Armut scheint eben nicht so einseitig und klar zu sein, wie man im ersten Moment vielleicht denken mag. So arm die Madagassen finanziell gesehen sind, so arm sind manche Europäer im Geist, wenn sie denken, dass die Welt in Ordnung ist.

 

 

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Florian (Dienstag, 26 März 2019 19:50)

    Grandioser Artikel! Kritisch, zum Nachdenken anregend — sowas hätten sie mal in der RNZ drucken sollen.