So richtig hatte ich irgendwie gar nicht auf dem Schirm, dass mein neues Fahrtgebiet in Afrika ist. Afrika war immer diese riesige Landmasse da irgendwo im Süden, wo man vielleicht irgendwann mal hinfliegt um eine Safari zu machen. Dass die ganzen Inseln im Indischen Ozean geographisch gesehen auch zu Afrika gehören, kam mir gar nicht wirklich in den Sinn, bis ich dann wirklich hier war.
Die Seychellen und Mauritius wirken nicht wirklich wie das typische Afrika, was man aus Dokumentationen und den Nachrichten kennt. Die Straßen sind
asphaltiert und sauber, die Häuser aus Stein und Zement, die Dörfer organisiert und geordnet. Alles geht vielleicht ein bisschen gemütlicher zu als daheim, aber würde man einen Deutschen hier
aussetzen, würde er irgendwie schon zurecht kommen. Wir wähnten uns in Sicherheit als wir den Erstanlauf auf den Seychellen und Mauritius hinter uns hatten. „Eigentlich ja alles ganz locker“,
dachten wir uns, und „gar nicht so übel, diese Route“. Und dann kamen wir nach Madagaskar.
Erster Anlauf in einer der größten Städte Nordmadagaskars und am liebsten wären wir rückwärts die Gangway direkt wieder zurück gestolpert. Eine Affenhitze erwartete uns auf der Pier und nicht nur
das. Menschenmassen in bunten T-Shirts, die wild durcheinander wuseln, daneben 80 Kleinbusse, die beim Anschauen auseinanderzufallen drohen, nebendran 120 Geländewagen in diversen Abstufungen der
Abgewracktheit und zwischendrin 300 knallgelbe Tuktuks.
Und mittendrin stehen sieben bleiche Scouts in weißen Poloshirts, die angestarrt werden wie Aliens von der zu 100 Prozent schwarzhäutigen und buntgewandeten Versammlung auf der Pier und die nach
drei Minuten in der Hitze schon schwitzen wie in der Sauna. Wir sind eine Attraktion in Antsiranana. Allein dass unsere Blu in den Hafen einläuft, ist ein Happening, wozu die Einheimischen auf
die Hügel der Stadt steigen um die beste Sicht auf unseren einfahrenden Kussmund zu haben. Kein Wunder, denn im letzten Jahr war es unsere kleine Schwester AIDAaura, die regelmäßig zu Gast in
Madagaskar sein sollte, und die aber fast die gesamte Saison lang nicht anlegen durfte wegen einem akuten Ausbruch der Lungenpest an Land.
Für uns tut man alles – in der madagassischen Kultur ist das ganz natürlich, denn ein Gast steht über allem. Man tanzt, man singt, man wirft sich in Schale, man entwurzelt sogar das lokale
Postamt, damit wir Touristen auf der Pier Briefmarken kaufen können. Was man nicht für uns tut, ist das Motto des madagassischen Lebens zu ändern, das schon fast wie ein Mantra ständig überall zu
hören ist: „Mora, mora!“ – „Langsam, langsam!“
Die Hitze ist so extrem, dass man eigentlich gar nicht anders kann, als alles ein bisschen gemütlicher anzugehen. Schwierig nur, wenn grade 2.000 AIDA-Gäste über die ohnehin gestopft volle Pier rennen, die alle natürlich auf der Stelle aus der Hitze und in ihren Bus wollen. Dass die Busse nicht klimatisiert sind, wussten wir vorher, und unsere Gäste merkten es schnell, sodass die Hälfte von ihnen nach drei Minuten doch wieder lieber in der Hitze draußen verbrannte als langsam von innen gebraten zu werden. Dass die Busse nicht wirklich Busse waren, kam als kleiner Schock für uns. Vor allem, weil unser Agent Alessandro uns vorher 18-Sitzer-Busse zugesagt hatte, in so einen Bus aber vielleicht 18 reinpassen, wenn sie superschlanke Afrikaner, alle miteinander verwandt und/oder sehr kuschelfreudig sind. Für uns bedeutete das die gedankliche Notiz: In Madagaskar ist ein 18-Sitzer mit 10 Mann voll. Die Busse sind eher sowas wie Großraumtaxis, nur mit sehr viel mehr Sitzen als das bei uns üblich wäre. Es gibt Klappsitze an den unmöglichsten Stellen und in einem Großteil der Fahrzeuge muss man auf den Fahrer warten um aussteigen zu können, weil die Innenseite der Schiebetüren so kaputt und offen sind, dass man Angst haben muss, sich die Pulsader aufzureißen, wenn man irgendwo falsch hinfasst.
Fahren tut man auf der rechten Straßenseite, was vielleicht die Franzosen eingeführt haben, die hier lange Zeit Kolonialmacht waren. Aus demselben Grund kommt man auch heute noch am ehesten mit Französisch weiter, wenn man mit den Einheimischen konversieren will. Wo wir überall sonst auf der Welt auf unsere Ausflugstickets den Hinweis „Englischer Reiseleiter möglich“ drucken, heißt es hier „Französischsprachiger Reiseleiter nicht auszuschließen“. Dann können noch so viele von uns auf Ausflug gehen, beim Übersetzen aus dem Französischen hört bei uns allen ziemlich bald nach „Je m’appelle Tanja, et toi?“ das Schulfranzösisch auf. Wirklich stören tut das nicht, denn die Reiseleiter sind eigentlich alle etwas anderes von Beruf. Als klar wurde, dass wir regelmäßig Antsiranana, Nosy Be und Toamasina anfahren würden, wurden im großen Stil Reiseleiter rekrutiert. Nach welchen Kriterien ausgewählt wurde, erschließt sich mir nicht, aber es gibt tatsächlich einige, die extra für uns Deutsch gelernt haben. Sie schauen dich zwar an wie ein Auto, wenn sie etwas auf Deutsch gefragt werden, aber ihre gelernten Themen zu Geschichte, Kultur und Traditionen können sie fast akzentfrei auf Deutsch erzählen. Mir wurde gesagt, dass die Agentur letztes Jahr ein Rundschreiben geschickt hat an alle, die bereits für die Aura gearbeitet hatten, mit der Bitte, weiterhin Reiseleiter machen zu wollen. Außerdem wurde viel mehr Trinkgeld in Aussicht gestellt für alle, die ein bisschen Deutsch können. Auf eigene (aber sehr geringe) Kosten konnte man sich eintragen für „Deutsch mit Olga“ einmal die Woche für ein ganzes Jahr. Wer auch immer Olga ist, aber sie hat offenbar Ahnung, denn wenn Einheimische, die vielleicht vorher noch nicht mal von Deutschland gehört hatten, plötzlich mit so großen Wörtern wie „Sklavenhandel“ und „Unabhängigkeitsplatz“ um sich werfen können, ist das schon ziemlich beeindruckend.
Ansonsten sprechen die Einheimischen eigentlich ihre eigene Sprache: Malagasy. Ein bisschen wie das Kreol der Indik-Inseln, aber eben doch irgendwie auch ganz anders. Kurz: ein Europäer hat eigentlich keine Chance, irgendwas zu verstehen. Die Wörter sind alle unglaublich lang und A-lastig. A’s als Anfangsbuchstaben, A’s mittendrin, A’s am Ende, und soo viele Doppelbuchstaben oder –silben! Allein die Hauptstadt aussprechen zu können, hat uns alle recht langes Üben gekostet, denn Antananarivo kommt irgendwie nicht ganz so leicht über die Lippen wie gedacht. Die Hauptstadt liegt mitten im Landesinneren, sodass wir da mit dem Schiff nicht hinkommen. Stattdessen fahren wir nach Antsiranana, was silbentechnisch eine angemessene Alternative darstellt. Dass fast jede größere Stadt einen einheimischen und einen französischen Namen hat, macht die Sache nicht leichter. Antsiranana zum Beispiel heißt eigentlich Diego Suarez, vermutlich nach zwei portugiesischen Seefahrern, die hier irgendwann mal anlandeten. Vielleicht sollten auch Menschen zweite Namen bekommen, wenn der Präsident schon Rajaonarimampianina heißt…
Das, was jedoch am krassesten auffällt, sobald man die Häfen verlässt, ist die unglaubliche Armut, die hier herrscht. Madagaskar ist in vieler Hinsicht ganz weit weg von allem anderen auf der Welt, aber es ist halt immer noch Afrika. Man rumpelt über Straßen, deren Asphalt nur noch von den Schlaglöchern zusammengehalten wird. Oder über Straßen, die bei uns gar nicht als Straße erkennbar wären, sondern vielleicht grade noch als Zufahrtsstraße zu einem Steinbruch, oder nicht mal das. Denn nicht mal unseren Steinbruch-Lastern würde man solche Pisten zumuten wollen. Die Fahrzeuge, die hier fahren, sind allerdings die, für die niemand sonst auf der Welt noch Verwendung hat. Was an Altmetall nirgends sonst gebraucht werden kann, kommt nach Madagaskar und hier bauen die Menschen damit ihre Häuser. Als Mann verbringt man seinen Tag damit, sich auf den eigenen Feldern um die Ernte zu kümmern oder zum Fischen rauszufahren. Als Frau sitzt man an der Straße und versucht, das zu verkaufen, was die Männer heranschaffen. Die Kinder müssen zur Schule, das ist Gesetz. Aber wie kann man Menschen zwingen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, wenn die so dringend auf den Feldern und an den Fischernetzen gebraucht werden? „Sich die Schule nicht leisten zu können“ bekommt eine ganz neue Bedeutung wenn es nicht um Geld geht, das für Schulgebühren fehlt, sondern um die Existenzgrundlage der ganzen Familie oder des ganzen Dorfes wenn man kein Kind mehr hat, das bei der Arbeit helfen kann.
Wir sind bedrückt und geschockt, wenn wir abends vom Ausflug in Madagaskar zurückkommen. Und wir verstehen, wieso hier alle trotz so extremer Armut so unglaublich gastfreundlich sind und uns am
liebsten auf Händen tragen würden: Wir bringen Geld ins Land und in die Region und zwar richtig viel davon. Wir sind die reichen Weißen und solange wir glücklich sind, kommen wir wieder und alles
wird gut.
Wir werden wieder kommen und zwar alle zwei Wochen in drei verschiedene Häfen. Wir werden viel sehen und viel erleben und Eindrücke gewinnen über Dinge, die wir am liebsten verdrängen wollen,
aber es schon nach dem ersten Tag in Madagaskar nicht mehr können...
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