Das schönste am Selbstfahren im Urlaub ist ja die Spontaneität, mit der man seine Route planen kann. Ein paar Tage im Voraus steckten wir abends die Köpfe zusammen und brüteten über der guten Straßenkarte und so wussten wir immer ungefähr, wo wir hinfahren würden. Bzw. wusste Isabel es, und ich konnte nicht anders als ihr vertrauen, dass wir irgendwo sinnvoll rauskommen würden.
Nachdem uns Cork so gar nicht gefallen hat – zwanzig Minuten Stadtbummel und es zog uns schon wieder raus aufs Land –, entschieden wir uns für die Scenic Route um die gewonnene Zeit schön auszunutzen. Einer spontanen Eingebung folgend kamen wir in der Corker Bucht raus, wo das Örtchen Cobh uns so viel besser gefiel als die Großstadt nebenan. Cobh hieß früher mal Queenstown, weil Queen Victoria mal zu Besuch war, was den meisten von euch aber trotzdem noch kein Indiz dafür sein dürfte, was hier sonst noch passiert ist. Queenstown war der letzte Hafen, in dem die Titanic jemals anlegte. Nach dem Ablegen aus Southampton gab es noch einen französischen Hafen und dann den Stopp in Queenstown, sieben Passagiere das Schiff verließen, die wohl zu den glücklichsten Menschen der Welt gehören dürften. 123 neue Passagiere stiegen in Queenstown auf, von denen der größte Teil nie wieder einen Fuß an Land setzte.
Schon 1871 begann die White Star Line damit, regelmäßige Überfahrten in die USA anzubieten und so entwickelte sich der niedliche Ort zu einem der wichtigsten europäischen Auswanderer-Häfen mit
etwa zweieinhalb Millionen Menschen, die von hier aufbrachen, um in der Neuen Welt ein besseres Leben zu finden. Queenstown hat außerdem nach Sydney den zweitgrößten Naturhafen der Welt, also
kommen noch heute regelmäßig große Kreuzer her. Die Titanic konnte nicht anlegen, sie lag auf Reede und die Gäste wurde mit Tenderbooten raus in die Bucht gebracht. Die Tenderpier gibt es noch
heute, genauso wie sie. Sie steht als Denkmal für die auf See Gebliebenen an einer wunderschönen Promenade nicht weit vom Sitz der White Star Line. Heute ist dort ein Museum drinnen, bei dem man
als Eintrittskarte das Ticket eines der 123 Queenstowner Passagiere bekommt und am Ende der Ausstellung herausfindet, ob er überlebt hat.
Besonders die Geschichte eines Mannes ist für den Ort wichtig: Ein Pastor namens Frank Browne wurde nach Queenstown geschickt und war für die paar Tage als Geistlicher für die Passagiere da. Er
hat ganz viele Fotos gemacht, die heute als wichtiges Zeugnis aus der Zeit gelten, denn alle anderen Fotos, die während dem Betrieb im Innern der Titanic gemacht wurden, liegen irgendwo auf dem
Boden des Atlantiks. Ein Ehepaar freundete sich mit dem Pastor an und lud ihn ein, mit ihnen auf ihre Kosten bis nach New York zu kommen. Er wollte annehmen, doch sein Orden in England befahl
ihm, in Queenstown abzusteigen und seine Aufgaben an Land wahrzunehmen, womit er ihm und seinen Fotos das Leben rettete.
Sehr bewegend, dieser Nachmittag, und wenn man an der alten Pier steht, die heute nur noch aus halb verrotteten Planken und rostigen Nägeln besteht, kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass der einst größte und unsinkbarste Passagierdampfer der Welt hier zuletzt gesehen wurde. Vor allem kurz vor meiner eigenen Überfahrt von den britischen Inseln nach New York ist so ein Besuch bedrückend. Ohne die Titanic-Tragödie wären unsere Schiffe heute nicht das, was sie sind. Praktisch alle Sicherheitsaspekte und Regeln, denen wir unterliegen, gibt es seit 1913, als im Rahmen der Prozesse um die Schuldfrage das Abkommen zur „Safety of Life at Sea“ getroffen wurde. Heute kann ich mir also relativ sicher sein, dass uns so ein Schicksal nicht ereilen wird, und wenn doch, dass wir extrem gute Chancen auf Rettung haben. Trotzdem: als Seefahrer gehen solche Geschichten nicht spurlos an einem vorbei, auch wenn sie noch so lange her sind.
Seit 1922 heißt Queenstown übrigens wieder Cobh, nach dem Irischen Wort für Bucht, denn es ist die „Cove of Cork“. Geschrieben in Irisch, gesprochen aber wie das englische „Cove“. Die Einheimischen nehmen es aber mit Humor, dass alle Touristen ihren Ort falsch aussprechen.
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