Jamaika ist ein seltsames Land irgendwie. Auf einer Seite die Luxushotels und direkt daneben die Wellblechhütten. Einerseits ist das Lebensmotto „Ya Maan!“ und „There are no problems, just situations. And situations can be dealt with“ und andererseits sieht man, wie sie alle am Hungertuch nagen. Eigentlich doch eine Situation, mit der irgendwie umgegangen werden sollte, aber zu sehen ist davon nichts.
Offiziell ist die Rede von 13% Arbeitslosigkeit im Land, das kann man sich aber gar nicht vorstellen, wenn man hier auf den Straßen unterwegs ist. Vielleicht stimmt die Zahl, wenn man als „Arbeit“ zählt, was die Einheimischen hier tun, um an Geld zu kommen, also zehn Stunden an der Straße sitzen mit dem Fang des Tages, um vielleicht fünf Fische zu verkaufen. Oder am Straßenrand die alten Plastiktüten zu sammeln und daraus in mühevoller Kleinarbeit eine Tasche zu nähen. Wenn man unsere Reiseleiterin aus Ocho Rios, Auswanderin Heike, fragt: 45% Arbeitslosigkeit.
Das World Fact Book sagt, es leben nur knapp 17% der Jamaikaner unter der Armutsgrenze. Ganz anders sieht es da natürlich aus in den Touristengebieten. Jamaika hat eine grandiose Landschaft, in
der es richtig tolle Angebote für Ausländer gibt. Wer damit zu tun hat, braucht sich um sich und seine Familie auch nicht die großen Gedanken machen, denn wir lassen ja viel Geld dort. Wir müssen
alle wirken wie Milliardäre, wenn wir für ein Foto von uns am Strand 15$ zahlen, für einen Gang zum Klo 1$ und unseren Busfahrern für 10 Minuten Fahrt 5$ Trinkgeld geben. Für uns wenig Geld, für
die Einheimischen die Versicherung, ihre Kinder für ein paar Tage über die Runden bringen zu können.
Das andere Bild dann bei denen, die nichts vom Tourismuskuchen abkriegen. Wer einen Brotfruchtbaum im Garten hat oder ein paar Kokospalmen, kann sich glücklich schätzen, denn die Palmen tragen
bis zu vier Mal im Jahr Früchte und auch noch richtig viele und mit einer Brotfrucht kann man eine ganze Familie für ein oder zwei Tage versorgen.
Letzte Woche kam ein Gast zu mir an den Schalter und erzählte mir, dass sie auf eigene Faust in Montego Bay draußen waren und an der Straße eine Frau auf sie zu kam, die fragte, ob sie nicht für
2000$ ihr Baby kaufen wollten…
Da will man sich als Tourist doch auch gar nicht aus den Touristengegenden entfernen. Wenn man in den sauberen Straßen bleibt vor den intakten Straßenlaternen und den hübschen Häusern mit den
frischgestrichenen Fassaden, kann einem eigentlich nichts passieren. An jeder Ecke patrouillieren Polizei und Armee, damit die Besucher nichts von den Problemen im Land mitbekommen.
Wenn man auf dem Mystic Mountain unterwegs ist, sieht man Ocho Rios und die Umgebung von oben – aber natürlich sieht man nicht die Wellblechhütten von so weit oben, sondern nur die schicken Hotels und Pools der Strandclubs. Für die Kreuzfahrer aber ein Mekka: mit dem Sessellift auf den Berg, oben eine Runde auf der Bobbahn durch den Regenwald, ein paar Fotos im Kolibrigarten, ein paar Takte mitgewippt mit der Reggae-Band und dann wieder runter und weiter zu den Dunn’s River Falls, der größten Attraktion der Region. Hier rennen am Tag tausende Touristen händchenhaltend einen Wasserfall hoch. Absolute Massenabfertigung dort, aber schon spaßig, da klatschnass den Fluss raufzukrackseln. Und wer dann noch nicht genug hat, von den Touri-Aktivitäten, der fährt weiter zum Tubing. Da geht es quer durchs Hinterland und da kriegt man mitten im Regenwald einen riesigen Gummireifen und flutscht dadrin den Fluss runter.
Bei fast allen Ausflügen organisieren unsere Agenturen in Jamaika irgendwo einen kurzen Shopping-Stopp am einen oder anderen Souvenir-Lädchen Überall kann man Rum probieren, der hier in Jamaika
echt gut ist (wobei ich persönlich den caymanischen vorziehe), und den Ersatz für die Mädels, Rum Cream (ein bisschen wie Baileys, aber soo viel weicher im Abgang). Denn das gehört hier
schließlich zur Grundversorgung: Nichts geht über ein bisschen „Vitamin R“.
Leider sind das natürlich immer die Touristenläden, wo wir anhalten und nicht etwa die Innenstädte der Hinterland-Dörfer. Wir sehen also nur vom Bus aus, wo die Einheimischen einkaufen gehen.
Teilweise sind das nur Bretterverschläge an der Straße, wo jemand Klamotten verkauft, oder die kleinen Holztische mit frischem Obst und Gemüse von den Plantagen, die inzwischen aber fast alle nur
noch im kleinen Stil operieren. Die meisten haben den Großbetrieb eingestellt und sind in tropische Gärten für die Touristen umfunktioniert worden. Vom Bus aus sehen wir auch die Arztpraxen, in
denen Medizin in alten Bierflaschen abgefüllt verteilt wird, die Bankangestellten, die in ihrem etwa 2-Quadratmeter-großen Räumchen hinter Gitter sitzen und Geld ausgeben, und die „Barba Shops“
und Restaurants, die aussehen, als fallen sie beim nächsten Windstoß auseinander.
Von den Wohnhäusern, die mehr sind als Holz- und Span- und Wellblechplatten, steht oft nur das Erdgeschoss, weil dann das Geld ausgegangen ist. Man nutzt alles, was man finden kann, um sein Haus
zu erweitern. Fenster braucht man nicht, wenn man kein Steinhaus hat; dann filtert sowieso genug Licht durch die Ritzen und da man eh keine Klimaanlage hat, verbringt man eh so wenig Zeit wie
möglich drinnen.
Alles wird irgendwie zu Geld gemacht, wenn es nur irgendwie geht. An einer Kirche in einer Bucht werden Plastikflaschen gesammelt, damit sie verschifft und im Ausland recycled werden können. Das
Projekt gibt es seit mehreren Jahren, doch leider geht immer zwischendurch das Geld aus, um es weiterführen zu können und so bleiben die Flaschen am Strand liegen bis der nächste Sturm kommt und
alle ins Meer rausgespült werden. Und dann werden sie wieder eingesammelt und das Geld geht aus, und so weiter und so fort.
Ich schätze, das gehört ein bisschen zu meinem Job: tagsüber von Attraktion zu Attraktion kutschiert werden, den Gästen bei unseren Präsentationen davon erzählen, wie toll die Länder sind, die
wir auf unserer Reise erkunden können – und dann kommt man irgendwann doch ins „richtige“ Jamaika und sieht, dass nicht alles so toll ist, wie wir es verkaufen.
Und manchmal passiert es, dass Gäste es auch merken. Dass sich Gäste am Schalter über einen Ausflug beschweren kommen: „Wir sind gestern in Jamaika auf unserer Tour nur durch die Armenviertel
gefahren und haben ja gar nichts vom Land gesehen.“ Und was kann ich dann drauf anderes antworten als „Das waren keine Armenviertel. Das waren einfach Viertel.“
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Flo (Donnerstag, 16 März 2017 22:02)
Verblüffend, was du da über das wahre Leben in Jamaica hinter der Touri-Fassade erzählst.
Was mich aber wirklich nervt, ist, dass sich manche Leute selbst in der Karibik nur beschweren können. Kreuzfahrer... Pff!
Chrissy (Samstag, 18 März 2017 12:18)
Da kann ich dir nur zustimmen, vor allem lebt man als Kreuzfahrer doch schon auf dem Schiff in der "heilen Welt", fernab von Armut. Ein Blick in einen Reiseführer hätte den einen oder anderen wohl ein wenig vorbereitet. Ich frag mich da manchmal schon, was sich die Leute so vorstellen.. Klar leben die Menschen dort genauso, wie wir.. Nicht - und genau das ist doch das Tolle am Reisen.. Tolle Bilder!! :-)